Verzweifelt stehe ich Mitte September im Supermarkt und kann mich nicht entscheiden, ob ich schon bei 30 Grad im Schatten Lebkuchen kaufen kann, oder nicht. Es ist das erste Regal, mitten im Gang, sodass man zwangsläufig daran vorbei laufen und an das Ende des Jahres denken muss.
Das Ende des Jahres.
Weihnachten, Familie, Gemütlichkeit, Wärme, all das vermisse ich in diesem Moment, während ich immer noch zweifelnd vor dem Lebkuchenregal stehe. Ich liebe Weihnachten, das Gefühl der Geborgenheit und Gemeinsamkeit in kalten Zeiten. Eine Sehnsucht nach dieser Weihnachtszeit macht sich breit, eine Mischung aus Vorfreude und Melancholie.
Doch was genau ist diese „Sehnsucht“? Ist es etwas Gutes? Etwas zerreißendes? Oder etwas Leidendes? Genau kann ich das nicht sagen, aber es lässt mich erinnern.
Erinnern an das „Kind-sein“, an das Unbehagliche und die Vorfreude, etwas Magisches an diesem Heiligen Abend zu erleben. Man stellte sich vor, wie das Christkind oder der Weihnachtsmann die Geschenke unter den Baum legt, die Kerzen anzündet und die magischen, unbekannten Wesen genauso leise und vorsichtig gehen, wie sie gekommen waren. Man glaubte, man könne die Magie, welche diese Wesen hinterlassen haben, noch spüren, wenn man kurz darauf von den Eltern in das Wohnzimmer gerufen wurde. Man hat sich als Kind wortwörtlich eine magische tatsächlich existierende Welt aufgebaut, in welcher es sich leicht zu erklären lässt, wie diese Geschenke unter den leuchtenden Weihnachtsbaum und das scheinbare Glitzer auf den Boden gekommen waren.
Urs Widmer beschreibt in seinem Artikel „Eine Spur im Sand hinterlassen“ genau diese Fähigkeit, sich seine eigene Welt gestalten zu können. Widmer schreibt: „ Die Fähigkeit, durch seine eigene Phantasie die Welt gestalten zu können, bedeutet eine Macht, die sich erst später als eine Illusion herausstellt“. Im Folgenden beschreibt er, dass diese „kindliche Realität“ es den Kindern ermöglicht zu glauben, dass sie die Größten seien. Nach diesem Gefühl sehne sich der Erwachsene in seinem Alltag und steige in Folge dessen auf ein Leistungsrennen ein, in der Hoffnung, seiner Sehnsucht erfolgreich Herr zu werden. Jedoch gebe man sich eher mit den „Symbolen seiner Wünsche“ , als mit den „erfüllten Wünschen selber“ zufrieden. Vielleicht geht es mir ja gerade genauso? Vielleicht sind diese Lebkuchen nur ein Symbol für diese magischen Momente, die mir fehlen, an die ich nicht mehr „wirklich“ glaube, sondern nur noch das genieße, was von dem Glaube an die Magie übrig geblieben ist.
Aber macht mich das unglücklich? Nicht mehr an das zu glauben, oder das zu denken, was mich als Kind völlig erfüllt hat? Oder macht mich die Sehnsucht unglücklich?
Man sagt, dass der, der Vermisst, nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit lebt. Sehnsucht hat Vieles mit dem Vermissen gemein. Man erinnert sich an etwas, ehemals gefühlte Emotionen der gelebten Situation kommen hoch und man reagiert unterschiedlich auf diese Erinnerungen. Nicht jede Erinnerung macht Menschen melancholisch, oder traurig. Jedoch sehnen sie sich nach diesen erlebten Momenten, die sich nicht mehr erleben lassen.
Wenn ich an Weihnachten denke, sehne ich mich nicht nur nach dem Gefühl der Geborgenheit und der Gemeinsamkeit, sondern auch nach der ganzen Familie. Vor ein paar Jahren war es das letzte Weihnachten, welches wir gemeinsam als Familie erleben durften. Jedoch war es mir bereits zum Beginn der kalten Jahreszeit klar, dass es das letzte Weihnachten sein würde, an welchem wir alle gemeinsam das übrige der Weihnachts-Magie erleben werden. Jeden Tag besuchte ich meinen Großvater im Krankenhaus, ein ehemaliger Förster, der Weihnachten ebenso sehr geliebt hat, wie ich. Das Wichtigste für ihn an Weihnachten war der schöne, große Weihnachtsbaum, welchen er selbst geschlagen, aufgestellt und zusammen mit seiner Frau geschmückt hatte. Auch in diesem Jahr hat er per Foto entschieden, welcher Baum in seinem Wohnzimmer stehen solle. Als der Heilige Abend gekommen war, saß er schon freudenstrahlend in seinem Bett und freute sich wie ich, auf alles, was an diesem Abend geschehen soll. Das gemeinsame Essen, das Singen, die Bescherung hat er in vollen Zügen in seinem alten Sessel lächelnd genossen. Und das, worüber er sich am meisten freute, war der leuchtende Weihnachtsbaum.
In einer Karikatur von Volker Kriegel stellt er ebenfalls eine solche „Weihnachtsbaum-Situation“ dar. Ein älterer Herr steht vor einem Turm, der gestapelt von einem Stuhl, einem darauf stehenden Bären und einer pflanzenartigen Kopfbedeckung und einer sternartigen Blume vor ihm steht. Über dem geschehen leuchtet eine Sternschnuppe, welche auf die Weihnachtszeit hindeuten soll. Unter der Karikatur steht: „Türlich ist es ein Ritual. Aber man kann enorm süchtig danach werden.“ Das Bären-Stuhl-Pflanzen-Gerüst soll dieses Ritual „Weihnachtsbaum“ darstellen, welches für die meisten Menschen einfach zu Weihnachten gehört und gar nicht mehr wegzudenken ist. So, wie für meinen Großvater und mich. Vielleicht sind wir, wie Kriegel sagt, süchtig nach diesem Weihnachtsritual. Aber das ist okay. Weil es uns etwas von dieser Magie von früher gibt.
Das letzte Weihnachten haben wir mit einem ebenso schön geschmückten Weihnachtsbaum gefeiert, wie wir es die Jahre zuvor getan haben. Wir haben gesungen, gelacht und gefeiert, auch wenn mein Großvater nicht in seinem großen Sessel gesessen hat. Aber er war trotzdem da, immer dabei in unseren Herzen. Auch, wenn wir alle Sehnsucht nach dieser gemeinsamen Zeit hatten, haben wir uns lächelnd und gern an die vergangene gemeinsame Zeit erinnert. „Wenn wir unsere Sehnsucht spüren, dann spüren und erfahren wir seine Liebe mitten in der Kälte und Dunkelheit dieser Welt.“, schreibt Anselm Grün in dem „Buch der Lebenskunst“. Und Recht hat er damit. Auch, wenn es dunkle und traurige Gedanken an diesem Abend gab, hat diese Sehnsucht, diese Erinnerung an die gemeinsamen Momente uns dieses Leuchten in den Raum gebracht. Anselm Grün schreibt in seinem Artikel darüber, dass der, der seine Sehnsucht zulässt und sich damit beschäftigt, Gott begegnet und das erfährt, worunter er leidet. Vielleicht kommt man aus dieser Einsicht und dieser Arbeit mit der Sehnsucht besser damit zurecht und kann viele Dinge und Situationen aus anderen Perspektiven betrachten. Und die Sehnsucht schlussendlich nicht als etwas Schlechtes ansehen, worunter man mehr leidet, als mit Freude darauf zurückblickt.
Denn je mehr ich mich damit beschäftige, leide ich nicht unter dieser Sehnsucht, sondern freue mich umso mehr über die für mich noch bestehende Magie von Weihnachten und den gemeinsamen Erinnerungen, die wir in dieser Zeit miteinander teilen.
Ich stehe immer noch vor diesem großen Lebkuchenregal und zweifle nun nicht mehr an meiner anfangs „komisch“-erscheinenden Überlegung, Mitte September ein oder zwei Packungen davon mitzunehmen. Ich lasse das Symbol der magischen Weihnachtzeit zu und lege lächelnd zwei Schachteln der Lebkuchen in meinen Einkaufswagen, neben den Spekulatius-Keksen und den Kinderpunsch-Flaschen. Mitte September, bei 30 Grad im Schatten.